Glanz Partikel

Man fragt sich, wie sie auf den Maler Alfred Partikel gekommen ist. Schon ihr erster Roman Pixeltänzer behandelte (u.a.) Künstler der Weimarer Ära (die Maskentänzerin Lavinia Schulz). Urlaub in Ahrenshoop und auf Gedenkstein gestoßen? Aus skandinavistischen Gründen nach Partikel gegoogelt und Wikipedia-Verzweigung gefunden? Oder Hinweis aus ihrer Blase (“Hey, wusstest du, dass Partikel auch Nachname eines Malers?”)? 

Mehrere Stränge sind verflochten im Band:
1. Mit I bis VI betitelte Gedichte behandeln Partikels Lebensstationen: Geburt in Goldap, Ausbildung in Königsberg, Anschluss an eine Künstlergruppe, Malen vor dem Ersten Weltkrieg am Kurischen Haff, Ehe und Verschwinden in Ahrenshoop. 
2. Neun Bilder von Alfred Partikel werden prosaisch beschrieben. Diese sind:
Heuernte
Hafeneinfahrt von Königsberg
Wellen
Fischernetze (Nidden)
Fischstillleben
Boddenwiesen (Ahrenshoop)
Winterliche Ostseelandschaft bei Ahrenshoop
Waldinneres
Stille Landschaft
3. Ein Mann isst einen Hering und verfolgt den Weg (des Herings “Herkunft”, Seite 9, vorletzte Zeile) zurück bis zu seinem Fang. Ebenfalls Prosa. 
4. Acht Gedichte, betitelt Dispersionsstudie A bis G. Acht, nicht sieben, weil die Dispersionsstudie D doppelt vorkommt, einmal ist es ein Sechszeiler auf Seite 24, dann auf Seite 30 ein Einzeiler. Von den Wassern der Postmoderne bespritzt, könnte man das für Absicht halten, ich möchte es indes lieber einem Versehen zuschreiben.
5. Restliche Gedichte, in deren lyrischem Ich ich die Autorin erkennen möchte, weil Leser Betroffenheit spürt. Sie klammern das Ganze und durchschießen es. Dabei ist von einem Ich bloß in dreien der ersten vier Gedichte die Rede, dann eine ganze Weile nicht mehr, erst kurz vor Ende wieder, ehe im letzten schließlich ein Man beschworen wird. Ob das Ich sich in Greifswald oder Ahrenshoop aufhält, kann ich nicht entscheiden.

Ich habe es jetzt so herum sortiert, weil zwar der Name der Autorin über dem Titel und damit Nachnamen des Malers, auch wenn man den ad hoc noch nicht ahnt, steht, aber kleiner gesetzt ist, also der Behandelte doch wichtiger erscheint als die Behandelnde.

Verflochten, weil die Abfolge (jedes Gedicht oder auch Prosastück nimmt eine Seite ein) ungefähr so ist:

Die Farben sind willkürlich. Wobei das Grau für die Gedichte aus Autorinperspektive gut gewählt erscheint, da eine gewisse Melancholie (“Wehmutsräume” auf der letzten Seite) aus ihnen spricht.

Das Verhältnis Lyrik zu Prosa beträgt 25:17, es sind also 60 % des Bandes Lyrik und 40 % Prosa, daher darf er den Untertitel “Gedichte” durchaus führen.

Neben dem Maler Partikel erscheint das Wort in seiner Bedeutung als Teilchen, an die Leser als erstes gedacht haben wird, als er das Cover erblickte. In reiner Form (Seite.Zeile 7.11, 12.5, 13.5, 24.4, 30.1), als Salzpartikel (6.11, 7.5), Staubpartikel (34.8) und zuletzt Erinnerungspartikel (46.11). Als Teilchen auch einmal oder öfter (z.B. “verstreute Schwebeteilchen” auf Seite 6 und “Salzteilchendichte” auf Seite 7).

Die biographischen Gedichte I und II sind beflissen parallel gebaut. In eckigen Klammern, die sonst nie im Band auftauchen, stehen hie der Rechtsaußen Hermann Göring, dort die Linksaußen Käthe Kollwitz einander gegenüber. 

Einmal wird konkrete Poesie bemüht. Das gesperrte Wort “G E F I L T E R T” stellt ein Filtervließ dar, welches nur kleine Festkörper nach unten durchlässt.

Brückenwörter oder -begriffe verschränken die Stränge. So führen die Schwanzflossen von Seite 7 nach Seite 9,  dem Strand von Seite 9 ging auf Seite 5 gestrandet voraus und das gebraten des Herings auf Seite 9 führt zum Bürgermeister auf Seite 10.

Schräge Sonnenstrahlen auf Seite 13 führen zu spitzen Schatten in den langen Fluren der Königsberger Kunstakademie auf Seite 14, auch nach Seite 34, wo durch Glasfenster buntes Licht ins Kirchenschiff fällt, und zu Strahlenbüscheln zwischen den Zweigen auf Seite 36.

Andererseits führen die Konturenkörper und Oberkörper der Bildbeschreibung auf Seite 11 zum Festkörper in der Dispersionsstudie A auf Seite 12, dann zu froststarren Fischleibern auf Seite 13, zum Schiffskörper in der Bildbeschreibung auf Seite 15, dem Schuppenkörperstapel in der Bildbeschreibung auf Seite 29 bis schließlich zum eigenen Körper auf Seite 37, dem nicht vertraut wird, und auf Seite 45 kommt noch einmal der Schuppenkörper vor.

Will man überinterpretieren, spiegelt sich in dieser Gegenüberstellung von Licht und Körper der Übergang von (impressionistischer) Berliner Secession zu (expressionistischer) Neuer Secession wider, die auf Seite 18 im Biogedicht III behandelt wird (“aus Bildern mit Punkten werden Bilder mit Kanten”, “Moderne Wesen sind nicht Eindruck, sondern Ausdruck”).

Weiter mit Brückenwörtern oder -begriffen. Die langen Flure von Seite 14 führen zum viel zu langen Mast auf Seite 15. Die Trennung von Seite 16, dort im Gedicht “Dispersionsstudie B”, kehrt auf Seite 18 wieder, als es um die Neue Secession geht, der Alfred Partikel anscheinend angehörte (“Partikel wird Teil des Ganzen”). Die Gischt von Seite 19 führt zur Seite 41. Den Salzkrusten und -kristallen auf Seite 21 gingen die auf Seite 6 voraus.  Die Brandungzone von Seite 21 kehrt am Ende wieder auf den Seiten 41 und 43. Eingeschmiegte Häuser (im Pixeltänzer schmiegten sich Felder an Autobahnen, aber auch Tanzende aneinander, eine Lebende an eine Statue und Leder um Männerwaden) auf Seite 27 haben Vorgänger auf Seite 25 in rotbedachten Häusern, die sich in grüne Wiesen drücken. Das Schweben auf Seite 29 kam in den Schwebeteilchen von Seite 6 schon vor. Die bläuliche Waschschüssel von Seite 29 kehrt als Emaillebadewanne auf Seite 31 wieder. Das Kräuseln auf Seite 34 (Lippen) hatten wir schon auf Seite 6 (Haut). Der Farn von Seite 38 kehrt in der Bildbeschreibung auf Seite 39 wieder. Dort knarzen Bäumen, zuvor auf Seite 34 taten es Schiffe. 

Auf Seite 37 wartet ein Fisch in der Tiefe. Auf Seite 31 lag der Fisch auf dem Grund der Wanne. “Die Tiefe des Meeres machte ihm jetzt keine Angst mehr.” (Seite 17). “Der Gedanke an eine Tiefe, von der er sich kein Verständnis machen konnte, beunruhigte ihn.” (Seite 9). Auf Seite 34 kreisen Heringsschwärme in der Tiefe. Auf Seite 42 wird ein Netz aus der Tiefe an Bord geholt.

Im Pixeltänzer irritierte oder stach heraus eine Wiedergabe von Paul Hindemiths Opernhandlung der Sancta Susanna von 1922 nach August Stramms Gesang der Mainacht von 1913, wo eine Nonne einer Jesusstatue den Lendenschurz entreißt und sich an ihm reibt. Hier im Band Partikel träumte die Autorin auf Seite 8 davon, von der unkörperlichen Liebe der Austern zu schreiben, “deren Eier und Sperma” sich jenseits der Schalenkörper irgendwo im weiten Meer befruchten.

Die Eingangsfrage klärt der Paratext auf Seite 2 auf. 

Die Pappbroschur bei Reinecke & Voß hat 48 Seiten und kostet 10 Euro. Das macht 20 Cent pro Seite oder 2 Cent für 5 Wörter.

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