In Peter Handkes Apotheker von Taxham (eigentlich: In einer stillen Nacht ging ich aus meinem dunklen Haus, aber für mich in Anlehnung an den Landpfarrer von Wakefield so umbenannt) feiert der Zwickel Urständ. Der Salzburger Ortsteil Taxham liege im Zwickel zwischen Autobahn, Eisenbahn und Flughafenpisten. Ein zweiter Zwickel der Landkeil (H.: “oder »Spitz«”) vor der Einmündung der Saalach in die Salzach. Dritte Zwickel und Mikrozwickel unbewirtschaftete Inselchen auf dem Gebiet der spanischen Stadt Zaragoza in Form von spitzen und immer spitzeren und kleineren Dreiecken: Tupfer von Wildnis.
Vor acht Tagen in Neubrück musste ich daran denken, als ich die Grenze dieses Kölner Stadtteils dort erreichte, wo die Rösrather Straße in stumpfem Winkel die Bundesautobahn 3 unterquert. Für einen Zwickel ist dieser Winkel zu groß, deutlich über neunzig Grad, vielleicht 140 sogar. Aber das Auslaufen der Hochhaussiedlung ins Gebüsch auf dem Autobahndamm und zur Ausfallstraße hin mit Parkplätzen, Fußpfaden und Müll rief mir den Handkeschen Zwickel ins Gemüt.
Nun beim Planen einer Tour durch den übernächsten Stadtteil Neustadt-Nord stoße ich auf der Karte auf ein Gebiet, das mir nicht ganz geheuer ist. Es handelt sich um ein kleines, bewaldetes zwischen Innerer Kanalstraße und Eisenbahnsträngen, nördlich des Venloer Walls. Stadteinwärts der Eisenbahnbegrenzung liegt der Mediapark, ein mir bekanntes Gebiet. 2005 habe ich dort Michel Houellebecq zugehört, als sein Roman Die Möglichkeit einer Insel vorgestellt wurde. Im Hintergrund zog langsam ein beleuchteter Zug über besagte Eisenbahntrasse, von uns im Saal durch die große Glasfassade im natürlichen Dunkel draußen zu beobachten. Dahinter muss das mich interessierende Gebiet also liegen. Ein Gebiet, das ich Zwickel nennen möchte, weil es auf vier Seiten von Verkehrsadern begrenzt ist (nun ja, welches städtische Areal ist das nicht?), aber auf dreien für Fußgänger unüberwindbar, und zudem eine längliche, gequetschte Form hat.
Die Grimms haben Zwickel unter anderem als keilförmiges Stück Land und führen Seume an auf seinem Weg von Triest über die Berge nach Venedig: “An dem Zwickel der Berge kommt hier ein schöner Fluss aus der Erde, der vermutlich auch Höhlen bildet.” Bei Handke ist der Zwickel auch eher dreieckig, spitz, ein immer spitzeres Dreieck bis zuletzt fast nur noch einem bloßen Strich, so klein ist der Winkel, so der Übertreibungskünstler und Steigererer Handke. In Taxham ist der Winkel zwischen Eisen- und Autobahn wenigstens ein wenig kleiner als ein rechter, insofern mag man Taxhams Nordende spitz nennen. Da für mich in Zwickel aber zwicken und eingezwängt sein mitklingt, mag es für das Kölner Gebiet hinter dem Mediapark durchgehen, auch wenn es, im Grundriss ein Vieleck mit manchen sich rundenden Seiten, eigentlich nirgendwo einen spitzen Winkel aufweist. Als Spaziergänger wird man ausweglos darin eingeschlossen sein und kann nichts als den Rückweg antreten.
Der Stadtplan zeigt eine Schraffur wie Wald dort an und nicht wenige Fußwege. Aus dem Zugfenster heraus müsste ich diesen Zwickel kennen. Hätte ich auf meinen häufigen Fahrten nach Bonn dort einmal rechts aus dem Fenster geschaut, müssten seine Bäume an mir vorbeigezogen sein. Und in meiner Erinnerung erscheinen Bilder, die vage sind, von Ästen auf einer Anhöhe, mal belaubt, mal kahl, je nach Saison, aber ich kann sie nicht fixieren, meine, einordnen nach jener Landmarke und vor dieser. Den Stadtgarten, dessen nördliches Ende der Zwickel bildet, kenne ich wohl, bin aber vielleicht niemals über den Fernsehturm hinausgelangt.
Deshalb gespannt und zugleich ängstlich.
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Zwei Tage später war ich da. Und es war ganz anders. Erstens waren viele Leute unterwegs auf dem Gebiet da. Als ich am Eingang vor roter Ampel stand, jonglierten im Wechsel zwei junge Männer vor den wartenden Autos. Ich war nicht der einzige, der über die Ampel wollte: Joggende, Fahrradfahrende, Kinderwägen Schiebende, spazierende Paare… Ausgeschilderte Radwege zu anderen Stadtteilen führten hinein in den “Zwickel”, der seine Bezeichnung damit verlieren sollte. Ein Weg stieg neben einer Wiese an auf den bewaldeten Hügel. Ich wählte einen Umweg, der unbevölkert war. Er führte leicht hangauf um den Hügel herum zur Straße zurück und dann um so steiler empor. Nun lagen die Gleise rechts und die Stahlkonstruktion einer recht neu wirkenden Fußgängerbrücke rückte ins Blickfeld. Sie führt jenseits der Schienen in den Mediapark und man kann an ihrem Ende eine Rampe nach links in den August-Sander-Park wie nach rechts zur Erftstraße hinab nehmen, auf der wenige Tage später ein Porsche Cayenne verunglücken sollte. Die Brücke wurde begangen. Diesseits schlich mir auf dem Spazierweg eine Bullenwanne entgegen, die dann langsam über die Brücke rollte.
Im Zwickel war recht viel los. Menschen der vorgenannten Arten erklommen den Hügel, kamen einem oben entgegen, dehnten ihre Muskulaturen, sprachen im Keuchen miteinander oder genossen als Paar den schönen Blick op d’r Dom. Mir persönlich wäre es lieber gewesen, es wäre leerer gewesen, so aber wurde man ständig bemerkt und mit Blicken taxiert. Kein Wegabschnitt gehörte einem ganz allein. Doch als ich einen Pilz erreichte, war der Mann, der zuvor von dort ausgeschaut hatte nach der Stadt hin, verschwunden und ich konnte die Eisenbahngleise unten in Ruhe studieren und die “relativ” neuen Gebäude des Mediaparks. Ich versuchte, das KOMED auszumachen, in der Mitte September vor 16 Jahren Houellebecq gelesen hatte, aber es war doch nicht das gläsernste Gebäude, sondern dasjenige rechts daneben mit dickem steinernem Rahmen um die Fensterfläche, durch die das Saalmobiliar zu erkennen war. Am Mittag des Tages hatte H. in der Bahnhofsbuchhandlung Ludwig signiert. Dieses Event hatte ich auch besucht, wenn ich auch sein Werk weder mittags noch abends kaufte und also nichts zum Signieren hatte. Als ich den Bahnhof verließ, sah ich H. auf dem Vorplatz stehen und mit seinem Hund Clément an der Leine eine Kippe rauchen. Ich nahm eine Fotografie davon, die mir anschließend gut gefiel wegen des großen Abstands zu den wenigen, eilenden anderen Passagieren und dem geringeren, aber doch noch einem, zwischen Herrchen und geliebtem Hund. Das Foto ging verloren, es muss noch auf irgendeiner Festplatte liegen, die ich aber nicht mehr angeschlossen kriege. Vor einiger Zeit, vor dem Erscheinen von Sérotonine, habe ich es noch einmal versucht, einzig dieses Fotos wegen. H. hat die Abendveranstaltung im KOMED ziemlich abgeklärt über sich ergehen lassen. Na klar, er verstand ja kein Wort. Eine lange Signierschlange. Ich überlegte, ob ich vor Ort den teuren Hardcoverband erwerben und mir signieren lassen sollte, und entschied mich dagegen. Aber wenige Tage später habe ich ihn mir doch gekauft. In der Ferne konnte man tatsächlich den Dom sehen und auch andere Landmarken lagen in der klaren Luft zutage.
Auch zur Hornstraße hin führt eine Brücke aus dem Gebiet heraus. Diese gern von Radfahrern genommen. Von wegen eingesperrt und keine Möglichkeit als zurück. Herkulesberg heißt der Zwickel offenbar.